Der dritteTeil der Kinzigtaltrilogie, „Fratzenstein“ spielt in Gelnhausen und bringt die Abenteuer von Hauptfigur Lisa zu einem spannenden Abschluss. In den ersten beiden Teilen der Trilogie traf Lisa auf französische Soldaten, lokale Helden und verschiedene Berühmtheiten – in „Fratzenstein“ komme noch einige prominente Namen dazu.
Lisa muss im von Franzosen besetzten Gelnhausen dunklen Geheimnissen auf die Spur kommen. Sie begegnet ihrer großen Liebe Jonas Faust, doch das Wiedersehen verläuft anders als Erwartet. Auch der Mann, den sie als „Raben-Stephan“ kennen gelernt hat, kreuzt erneut ihren Weg. Immer mehr „alte Bekannte“ tauchen auf und machen Lisa das Leben schwer. Schließlich hat Lisa noch Visionen einer unheimlichen Frau am „Fratzenstein“, wie der Hexenturm genannt wird. Bald begreift sie, dass es sich um Elisabeth Strupp handelt, die 1589 in Gelnhausen wegen Hexerei hingerichtet wurde – und die sie zu mysteriösen Briefen führt. Zu allem Überfluss setzt sich auch noch die Mordserie fort, die bereits am Teufelsloch begonnen hat …
Leseprobe:
Lisa bog um die Ecke des Turmes, konnte Marie jedoch nicht entdecken. Vielleicht war das Mädchen auf die andere Seite der Kirche gelaufen. Sie beschleunigte ihre Schritte, denn angesichts der vielen Soldaten in der Stadt hielt sie es für keine gute Idee, eine Sechsjährige mutterseelenallein hier herumspazieren zu lassen.
Als Lisa die Südseite des Hofes sehen konnte, atmete sie auf: Marie stand in ihrem gelben Festtagskleidchen an der Feldsteinmauer, die den Kirchhof umgab, und redete mit einer älteren Frau. Die beiden schienen vertieft in ihr Gespräch zu sein, doch als Lisa näher kam, bemerkte sie, dass Totenstille herrschte. Die Vögel waren verstummt, der Wind hatte sich gelegt. Und das Kind und die Frau standen in einem Schweigen beieinander, das durch seine Intensität Lisas Schädel zu sprengen drohte.
Erschrocken japste Lisa nach Luft. Die Frau hob langsam den Kopf. Weiße Haare hingen ihr lose auf die Schultern. Warum trägt sie keine Haube?, fragte sich Lisa. Der Anblick war so ungewöhnlich, dass sie sich einige Augenblicke mit diesem Gedanken aufhielt, ehe sie die Frau richtig ansah – und sie erkannte.
Die dunklen, ausdrucksvollen Augen in dem alterslosen Gesicht blickten traurig. Wieder trug sie das weiße Kleid und um den Hals das rote Band, das Lisa bereits bei ihrer ersten Begegnung wahrgenommen hatte – vor einigen Monaten, als Lisas Auto auf der Kinzigbrücke in Hanau das Geländer durchbrach, in die Fluten stürzte und Lisa erneut durch die Zeit katapultierte. Diese Frau war der Grund gewesen, warum sie den Unfall gehabt hatte: Sie hatte auf der Straße in Hanau gestanden, ihr war Lisa ausgewichen.
“Unmöglich”, stieß Lisa fassungslos hervor. Doch ehe sie noch etwas sagen oder tun konnte, begann die Silhouette der Frau zu flimmern. Lisa blinzelte. Als sie die Augen wieder öffnete, war die Frau verschwunden.
Wie ist das möglich? dachte Lisa. Ist sie eine Zeitreisende wie ich? Und wenn ja: Warum kann sie sich einfach wegbeamen und ich nicht?
Marie sah sie schuldbewusst an. “Ich wollte nicht weglaufen”, sagte die Kleine. “Aber sie hat mich gerufen, und…”
“Schon gut”, sagte Lisa irritiert und sah sich um. Sie waren allein. “Wer hat dich gerufen?”
Marie sah sie mit dem Blick an, den Kinder für besonders begriffstutzige Erwachsene reserviert haben. “Die Frau, die eben noch hier war.”
Sie hat sie also wirklich auch gesehen, dachte Lisa verblüfft. “Ach so”, meinte sie mit möglichst neutraler Stimme. “Die Frau, die so plötzlich verschwunden ist. Du weißt nicht zufällig, wie sie das gemacht hat?”
Marie zuckte mit den Schultern. “Keine Ahnung. Ich glaube, die können so etwas einfach.” Das Mädchen setzte sich in Bewegung, zurück Richtung Brautportal. Lisa hielt sie an der Schulter fest.
“Moment noch, Marie. Was meinst du damit? Wer sind die?”
Da war er schon wieder, dieser Blick. Langsam begann er Lisa zu nerven. Wie sollte denn das erst in der Pubertät werden?
Marie seufzte und wies auf die Stelle, an der die Dame in Weiß eben noch gestanden hatte: “Na, Geister natürlich!” Sie schüttelte Lisas Hand ab und rannte zurück zu ihrem Vater, der auf der anderen Seite der Marienkirche zu rufen begonnen hatte.